Nun ist auch die dritte Etappe meiner Zugfahrt quer durch den amerikanischen Kontinent vorbei, und ich habe tatsächlich die USA einmal von Ost nach West auf dem Landweg durchquert. Es ist daher an der Zeit, auf meine Erfahrungen an Bord von Amtrak-Zügen zurückzublicken.
Grundsätzlich ist Zugfahren in den USA (ausgenommen die Lokalzüge für Pendler) weniger ein Fortbewegungsmittel denn ein Abenteuer(*) und/oder eine Lebenseinstellung (zumindest außerhalb des sogenannten Northeast Corridor zwischen Washington D.C., New York und Boston). Aufgrund der großen Distanzen sind die Züge oft tagelang unterwegs, vor allem auf den Strecken ab Chicago zur Westküste. Der Zug ist daher kein Massentransportmittel, sondern eher für Liebhaber.
Dass Zugfahren nicht beliebter ist, kann allerdings nicht am Sitzabstand liegen: Der ist größer als bei manchen Fluglinien der Sitzabstand in der Notausstieg-Reihe, und jeder Platz hat nicht nur eine Fußstütze, sondern sogar eine ausklappbare Beinstütze als Verlängerung der Sitzfläche. Problematisch wird es nur bei großen Menschen (nach meiner Erfahrung zumindest ab 1,95 Meter) beim Schlafen, da es keine adaptierbare Kopfstütze gibt. Da hat man dann die Wahl zwischen Kopf oder unterer Rücken anlehnen – beides gleichzeitig geht nicht. Da wäre ein kleiner (Reise-)Polster wohl hilfreich; ein zusammengerollter Pullover tut seine Dienst diesbezüglich nur bedingt.
Vor allem wird der Pullover vielleicht anderweitig dringender benötigt: Die Klimaanlage läuft nämlich auch bei kühleren Außentemperaturen auf vollen Touren – fast so, also müsste jeder Zug jederzeit damit rechnen, das Death Valley zu durchqueren. Abgesehen davon ist aber auch ein Sitzplatz durchaus für eine Nachtfahrt geeignet.
Meine erste Fahrt von New York nach Chicago war eine solche: 19 Stunden unterwegs. Die Reise hat übrigens gleich stilgerecht begonnen: mit einer Verspätung. Amtrak-Züge habe nämlich den Ruf, notorisch verspätet zu sein. Mein Zug war da keine Ausnahme; wir sind erst 1:41 Stunden nach geplanter Abfahrtszeit von New York weggekommen (ohne Angabe von Gründen). Diese Verspätung haben wir nie so richtig aufgeholt – im Gegenteil: Bis Chicago sind noch weitere 31 Minuten dazugekommen.
Aufgrund der verspäteten Abfahrt habe ich auch den landschaftlich schönsten Teil der Strecke, von New York den Hudson River entlang nach Norden, gerade noch bei Tageslicht genießen können. Die Strecke führt stellenweise tatsächlich direkt den Fluss entlang, sodass man fast Angst haben muss, bei Hochwasser durchs Wasser zu fahren. Leider war es recht bewölkt und, wie gesagt, auch schon recht spät am Abend; aber auch eine Abendstimmung am Hudson River ist nicht zu verachten.
Am nächsten Tag bin ich dann zum Sonnenaufgang überm Lake Erie aufgewacht, und habe dementsprechend den namensgebenden Teil des Zuges fast komplett verschlafen. Jeder Zug in den USA hat nämlich einen Namen, und der von New York nach Chicago heißt "Lake Shore Limited", weil er eben das Ufer der großen Seen entlang fährt.
Den Vormittag haben wir allerdings damit zugebracht, die schier endlosen Felder von Ohio und Indiana zu durchqueren. Diese Szenerie hat sich auch an Bord des "California Zephyr" (so, wie schon in einem früheren Eintrag erwähnt, der Name des Zuges von Chicago nach San Francisco) nicht geändert: Auch Illinois und Iowa bestehen anscheinend in erster Linie aus Feldern. Highlight dabei war noch die Überquerung des Mississippi.
Nebraska habe ich dann komplett verschlafen, und bin erst wieder in Colorado aufgewacht und habe – welch Überraschung! – Felder vor dem Fenster erspäht. Schließlich haben wir Denver erreicht, wo ich mir am (sehr schönen) Bahnhof die Beine vertreten habe, bevor die Überquerung der Rockies auf dem Programm gestanden ist, über die ich ja bereits berichtet habe.
Nach meiner Mietwagenrundreise durch Colorado und Utah bin ich wieder an derselben Station eingestiegen und habe meine Fahrt fortgesetzt. Zu meiner großen Überraschung war der Beginn der Fahrt nicht etwa repetitiv (weil ich dieselbe Strecke am Vormittag mit dem Auto in die Gegenrichtung gefahren bin), sondern ausgesprochen interessant: Die Bahnstrecke verläuft nämlich im (passend benannten) Ruby Canyon, der sonst nur per Raft oder Kanu erreichbar ist.
Danach hat Utah seinen Individualismus bewiesen: Es haben uns nicht etwa weitere Felder erwartet (dafür ist es dort zu trocken), sondern wir sind durch die (Halb-)Wüste mit dürrem, niedrigen Gestrüpp gefahren. Trotzdem gibt es dort Leben: Beispielsweise ist ein Kaninchen am Zug vorbeigehoppelt; die Utah-Präriehunde (eine Art Erdmännchen) haben genauso stocksteif aus ihren Bauten geschaut und den Zug angestarrt, wie ein Exemplar dieser Art Stunden zuvor auf der Überholspur am Highway gestanden ist.
Schließlich hat uns (mal wieder) ein Canyon beinahe um den Sonnenuntergang gebracht, weil die Sonne schon nicht mehr den Boden des Canyon (und damit uns), sondern nur noch die Spitzen der Felsklippen erreicht hat. Erst kurz vor Sonnenuntergang sind die Canyonwände wieder so niedrig geworden, dass wir tatsächlich die Sonne gesehen haben.
So sind wir dann in die Nacht gefahren, und haben die große Salzwüste von Utah und den Großteil von Nevada im Finstern durchquert. Aufgewacht bin ich dann zu einer sehr ähnlichen Szenerie wie am Vortag: niedriges Gestrüpp auf braunem Boden. Nur die Präriehunde sind entweder schon in ihrem Bau erstarrt, oder es gibt sie hier nicht mehr. So oder so, viel getan hat sich scheinbar nicht über Nacht.
Knapp vor der kalifornischen Grenze wird die Strecke aber wieder interessanter: Zuerst geht es den Truckee River entlang, bevor die Überquerung der Sierra Nevada ansteht. Diese sind in gewisser Weise eine kleinere Version der Rockies, nur überraschenderweise mit mehr Schnee (obwohl ja niedriger) und dichter bewaldet. So sieht man mancherorts die Berge vor lauter Bäumen nicht mehr; zwischendurch ergeben sich aber doch großartige Panoramen, so zum Beispiel auf Donner Lake, an dessen Ufern eine Expeditionstruppe (die sogenannte "Donner Party" – daher auch der Name des Sees) im Winter 1846/47 eingescheit wurde und teilweise dem Kannibalismus (!) verfallen ist, um zu überleben.
Von dort war es nur noch ein gemütliches Ausrollen in Richtung Pazifik – und da waren sie dann auch wieder: Felder! Wir sind schlussendlich 51 Minuten zu früh in San Francisco (genauer gesagt, in Emeryville, denn der Zug fährt nicht über die Bay) angekommen, was allerdings auch daran liegt, dass die letzten zwei Stunden auf der Strecke sehr großzügig bemessen sind – und, weil nur Stopps zum Aussteigen, mitunter auch verfrüht abgefahren oder gleich gar nicht gehalten wird.
Den Großteil der Strecke über die Rockies und die Sierra Nevada habe ich übrigens im Observation Car verbracht, das große Fenster bis zur Decke hat, und sich daher besonders gut zum Landschaft-Schauen eignet. Die Hälfte des Waggons ist dabei mit seitlich zum Fenster hin ausgerichteten Sitzen ausgestattet. Manche davon sind sogar drehbar, sodass man bei Bedarf auch die andere Seite im Blickfeld behalten kann. (**) Manche andere sind als Doppelsitz ausgelegt, sodass sie entweder von normalgewichtigen Pärchen oder von einem typischen (übergewichtigen) Amerikaner alleine genutzt werden können.
Diese Sessel eignen sich natürlich auch zum Leute-Beobachten, und manchmal fragt man sich etwa: Wenn man um 11:00 Uhr vormittags das erste Gin Tonic trinkt, und um 14:00 Uhr dann ein Ginger Ale mit Whiskey (was es zum Mittagessen dazwischen gegeben hat, habe ich nicht beobachten können), hat man dann schon ein Alkoholproblem, oder ist das normal für ältere britische Ladies? Und warum reist man gemeinsam, sitzt aber nicht nebeneinander, geschweige denn dass man (ausgenommen zur Vereinbarung von Essensplänen und zur Drink-Beschaffung) miteinander redet?
Die andere Hälfte des Observation Car besteht aus Sitzen in Viergruppen mit Tischen dazwischen. Sitzt man an einem solchen Tisch, kommt man unweigerlich auch mit anderen Reisenden ins Gespräch, und trifft so mitunter ziemliche Originale. Der bereits im Beitrag über die Überquerung der Rockies erwähnte Herr im Holzfällerhemd mit langem Bart (namens Troy, wenn ich mich richtig erinnere) hat beispielsweise folgendes Gespräch mit seinem Kumpel Chip(***) geführt:
Troy: I am damn happy about Trump over Hillary!
Chip: Oh yeah!
Troy: But…
Chip: Yeah, but…
Troy: He should do a bit more for the environment.
Chip: Yeah!
[…]
Troy: We need more than just two parties. We should not have to choose the lesser of two evils.
Chip: Yeah!
Ich hätte ja gern erfahren, warum genau er so froh über den Wahlausgang ist, aber Politik eignet sich nun mal nicht so für Small Talk. Als einziger Ausländer unter lauter Amerikanern wollte ich da nicht in ein potenzielles Wespennest stechen.
Auch im Speisewagen kann man mit anderen Reisenden ins Gespräch kommen, weil immer vier Leute gemeinsam an einen Tisch gesetzt werden. Da bin ich aber eher an weniger republikanisch angehauchte Charaktere gestoßen, die mich mitunter auch schon (etwas neidisch) über das Sozialsystem in Österreich ausgefragt oder etwa zur Übernachtung bei Tochter und Schiegersohn in Neuseeland eingeladen haben.
Im Speisewagen war ich übrigens erst am California Zephyr essen, denn dort habe ich mir einen Schlafwagen gegönnt – und Reisende im Schlafwagen sind Reisende erster Klasse, die u.a. in Chicago in der Lounge bei Gratis-Getränken und -Snacks warten dürfen, und für die eben auch das Essen im Speisewagen inklusive ist. Die Menüauswahl ist nicht riesig, und die Qualität in etwa so, wie man es im Zug erwarten kann, aber es gab immerhin zumindest ein vegetarisches Menü. Allerdings gab es halt nur eines, und am zweiten Abend hatte ich gerade noch das Glück, die letzte Portion zu erwischen – und das beim erst zweiten "Seating" (von vier), denn gegessen wird in Schichten. Außerdem waren am zweiten Abend die Portionen merkbar kleiner; vielleicht haben sie aber auch am ersten Abend nur versehentlich das Gemüse, das bei sonst allen Hauptspeisen dabei ist, auch zu meinem asiatischen Nudelteller dazugekippt – der Salat war aber definitiv kleiner als am erste Abend.
Einen weiteren Vorteil zusätzlich zum inkludierten Essen haben die Schlafwagenabteilen: Man ist (in gewissem Rahmen) Herr über seine eigene Klimaanlage. So braucht man keine Polarausrüstung zum Schlafen, sondern es reichen schon die beiden zur Verfügung gestellten dünnen Decken (wenn man als Alleinreisender das Glück hat, die volle Ausstattung für Doppelbelegung zu bekommen).
Bei den Schlafwagenabteilen gibt es übrigens noch Abstufungen: Die billigste Variante (die ich gewählt habe) ist eine sogenannte Roomette: ein Abteil bestehend aus zwei einander gegenüberliegenden Sitzen, kaum breiter als der Sitz, bei dem die beiden Sitze in der Nacht zu einer Liegefläche zusammengeschoben werden, und eine weitere Liegefläche (ähnlich zu einem Schlafwagen bei uns) von oben heruntergeklappt wird. Im "Nachtmodus" bleibt dann im Abteil noch ca. 30 mal 60 Zentimeter Bodenfläche frei – wie man sich da zu zweit arrangieren soll, ist mir ein Rätsel.
Etwas komfortabler sind die "echten" Schlafwagenabteile (genannt "Bedroom"), die jeweils zwei (extrabreite) Sitze in Fahrtrichtung, sowie einen dritten Sitz gegen Fahrtrichtung (der auch in der Nacht benützbar bleibt) aufweisen. Außerdem hat man dort ein Waschbecken direkt im Abteil; ich musste die Waschbecken in einer der vier Toiletten im Waggon verwenden. Für alle Schlafwagen-Passagiere gibt es auch eine Dusche an Bord, die ich allerdings nicht ausprobiert habe. Sie hat allerdings zumindest am zweiten Zug (denn interessanterweise ist hier anscheinend nicht jeder Waggon gleich) eigentlich recht komfortabel ausgeschaut.
Allerdings muss man beachten, dass das Ganze schon eine recht wackelige Angelegenheit sein kann – mehr noch als bei uns üblich. Die Schienen werden nämlich normalerweise von Frachtzügen genützt, und sind von Amtrak nur gemietet. Das hat zwei Auswirkungen: Zum einen potenzieren sich dadurch etwaige Verspätungen, denn Frachtzüge haben auf der Strecke Vorrang. Wenn also ein Personenzug seinen Slot einmal verpasst hat, muss er mitunter immer wieder warten. Zum anderen wird vielleicht nicht so viel in die Wartung der Infrastruktur investiert – denn wen interessiert es schon, wenn beispielsweise ein paar Kohlen, gefrorene Rindersteaks oder sonstige Frachtgüter im Waggon herumgeschleudert werden? Dementsprechend gibt es manchmal doch außergewöhnlich ruckartige Seitwärtsbewegungen.
Auch an den Bahnhöfen erkennt man manchmal die fehlenden Investitionen in die Infrastruktur. In Toledo (Ohio) scheint beispielsweise die Frage zu sein, was zuerst kommt: der Zug oder der Einsturz der rostigen Plattformüberdachung?
(*) tatsächliche Wortwahl eines amerikanischen Bahnfahrt-Neulings
(**) Wenn man keinen davon erwischen sollte: Ich war mit meinem Sitzplatz über die Rockies bzw. die Sierra Nevada auf der linken bzw. rechten Seite (in Fahrtrichtung Westen gesehen) ganz zufrieden – auch wenn die beiden Canyons hinauf und hinunter von den Rockies sowie ein Teil des Truckee River auf der jeweiligen anderen Seite zu sehen war.
(***) kein Scherz