Chicago ist nicht ganz seinem Ruf als "Windy City" gerecht geworden. Es hat zwar auch hier der Wind geblasen, aber es war (verglichen mit New York) eher ein Lüftchen. Allerdings war es nicht wirklich ein laues Lüftchen, denn es war auch hier überraschend kühl.
Berichten von anderen Reisenden zufolge war die Kälte und der Wind in den Tagen zuvor in Chicago aber noch schlimmer als in New York, also ist der Spitzname der Stadt vielleicht doch verdient. Mich hat die Stadt mit starker Bewölkung, aber fast ohne Wind begrüßt. Bei meinem Spaziergang entlang des Lake Michigan war aber gespenstisch wenig los – verglichen mit dem Trubel in New York hat das eher einer Geisterstadt geglichen. Als ich aber dann, nachdem ein immer stärker werdender Regen eingesetzt hat, mit dem Bus zurück in die Jugendherberge gefahren ist, war klar, wo die alle stecken: mit ihren Autos im Stau.
Am nächsten Tag haben sich die Wolken zunehmend verzogen, und die Stadt war wie ausgewechselt: Überall waren Leute unterwegs, die die Sonnenstrahlen genossen haben. Ich habe das offensichtlich sogar ein wenig übertrieben, denn ich habe mir einen leichten Sonnenbrand auf Stirn und Nase eingehandelt.
Mit Schuld daran war wohl die Architectural River Cruise, die ich bei strahlendem Sonnenschein zu Mittag am Chicago River unternommen habe, und die mir ein wenig die Architektur der Stadt näher gebracht hat (auf die die Chicagoer offensichtlich ziemlich stolz sind). Nach einem großen Feuer, das im Jahr 1871 beinahe die ganze Stadt zerstört hat, mussten sie nämlich alles wieder aufbauen, und haben Wert auf moderne Architekur gelegt. Einer der hauptverantwortlichen Architekten war übrigens ein Deutscher, den unser Tourguide glatt zum Österreicher erklärt hat (Mies van der Rohe).
Auch heute noch sieht sich Chicago als eine Art Architektur- (und Kunst-)Hauptstadt. So hat beispielsweise im Jahr 2004 der Millenium Park mit außergewöhnlicher Architektur und einigen Kunstinstallationen, wie zum Beispiel die "Bean" eröffnet. Dieses glänzende, bohnenförmige Etwas ist ein wahrer Touristenmagnet. Kurz nachdem ich dort eingetroffen bin, sind gleich zahlreiche große Touristengruppen aufgekreuzt.
Warum Chicago allerdings bei dem Anspruch, eine Architektur-Hauptstadt zu sein, sein schienengebundenes öffentliches Verkehrmittel, die "L" (kurz für "Elevated"), auf Stahlstelzen mitten über den Straßen bauen muss, ist mir ein Rätsel. Diese Stahlkonstruktionen sind so hässlich, dass sie fast schon wieder eine Faszination ausüben. Allerdings konnte ich mich nicht ganz daran gewöhnen, dass in Chicago die U-Bahn eben nicht vor der Haustür, sondern vorm Fenster im 1. oder 2. Stock liegt.
Um also die U-Bahn aus dem Blickfeld zu bekommen, muss man ein wenig höher hinauf. Ich habe mich für das Skydeck, die Aussichtsplattform im 103. Stock des SearsWillis Tower(*) entschieden. Dank des strahlend blauen Himmels war die Aussicht wieder fantastisch. Allerdings war ich auch dort Trendsetter: Konnte ich noch praktisch ohne Wartezeit nach oben fahren, sind nach mir wieder die Massen eingetrudelt, und haben sich oben vor den Fenstern gedrängt. Die meisten haben sich aber gottseidank bei der sogannten "Ledge" angestellt, einigen Glasboxen, die aus der Seite des Gebäudes herausragen, und in denen man daher direkt über den Straßen von Chicago stehen kann.
Den Tag beendet habe ich dann noch mit einem Spaziergang entlang des Chicago River, der bei Schönwetter offensichtlich sehr gern von Läufern oder von Büromenschen für einen After-Work-Drink genützt wird.
An meinem letzten Vormittag habe ich mich (aufgrund des doch zunehmend auffrischenden, eher frischen Windes) gegen eine Radtour sondern für einen Spaziergang entlang des Seeufers entschieden. Entlang des Lake Michigan zieht sich nämlich der Lakefront Trail, der bei Radfahrern und auch wieder bei Läufern recht beliebt zu sein scheint. Dieser idyllische Betonstreifen liegt direkt zwischen dem Ufer des Sees und einer achtspurigen (!), viel befahrenen Straße. An manchen Stellen gibt es sogar einen (Sand-)Strand, wobei mir nicht ganz klar ist, ob der auch zum Schwimmen gedacht ist. Es sind nämlich zumindest entlang des betonierten Teils immer wieder "Schwimmen verboten"-Schilder auf den Boden gemalt – witzigerweise auch direkt neben Leitern in den See. Nachdem Chicago allerdings sein Trinkwasser aus dem See bezieht, muss er wohl Trinkwasserqualität haben. Das war allerdings nicht immer so: Früher hat der Chicago River die ganzen (Industrie-)Abwässer in den See gespült. Man hat aber nicht einfach damit aufgehört, den Fluss zu verschmutzen – oh nein! Stattdessen hat man mit einer Serie von Kanälen und Stausystemen die Fließrichtung umgekehrt (!), sodass die Abwässer nicht mehr in den See, sondern über den Mississippi in den Golf von Mexiko fließen.
(*) Vor einigen Jahren hat die Willis-Gruppe den Wolkenkratzer samt Namensrechten gekauft. Für einen echten Chicagoer heißt er aber immer noch Sears Tower.