Wie bereits erwähnt, leben in der Umgebung von San Cristóbal zahlreiche Indigene. Trotz der Christianisierung durch die Spanier haben sich noch viele der alten Maya-Bräuche am Leben gehalten.
Das hat man bereits bei der ersten Station meiner Tour in San Juan Chamula gesehen: Am Friedhof gibt es keine gemauerten Gräber oder Grabsteine, sondern die Särge liegen nur unter Erdhaufen begraben, die eventuell mit Kiefernadeln bedeckt sind. Nur ein schlichtes Kreuz steht am Kopfende des Grabes – und nicht einmal das ist immer ein christliches, sondern es wird manchmal begleitet durch oder gar ersetzt von einem Maya-Kreuz (mit kreisrunden Knubbeln an den drei freien Enden). Dieses symbolisiert klarerweise nicht das Kreuz Christi, sondern den Baum des Lebens. Deswegen stecken auch hin und wieder ein paar Kiefernzweige neben dem Kreuz in der Erde.
In der Stadt selbst sieht man viele (Frauen) noch die traditionelle Tracht tragen: Ein dicker, schwarzer Wollrock mit einer farbigen Baumwollbluse für die Frauen, ein Woll-Poncho für die Männer. Nachdem letztere aber zunehmend außerhalb des Dorfes arbeiten, setzt sich unter den Männer immer mehr westliche Kleidung durch.
Was sich jedoch nicht geändert hat: Das Dorf wird von einer Gruppe von religiösen, traditionellen und zivilen Führern geleitet. Dazu wird man nicht etwa gewählt, sondern muss sich freiwillig melden – wenn man genügend Geld hat, denn während der einjährigen Amtsperiode kann man nicht arbeiten, sondern muss sich seinen Pflichten als Führer widmen (und die zugehörigen Ausgaben tragen).
Für einen religiösen Führer bedeutet das beispielsweise folgendes: Er muss wöchentlich die Kiefernadeln am Fußboden des Heiligenzimmers auszutauschen, vierteljährlich den mehrere Meter breiten Orchideenvorhang rund um die Heiligenstatue, und alle zwanzig Tage (ein alter Maya-Monat) die Pflanzen-Decke oberhalb. Vier Mal am Tag muss er eine Zeremonie rund um die Heiligenfigur durchführen, und dabei genügend Weihrauch und Kerzen verwenden. Wenn Besucher zur Anbetung des Heiligen kommen, muss er sie mit Pox (eine Art Schnaps) bewirten. Zu besonderen Anlässen muss er sich um ein Feuerwerk kümmern (wobei es bei einem mexikanischen Feuerwerk nicht um die Lichter, sondern um ein möglichst lautes "Bumm!" geht). Zu allem Überfluss muss er beide Zimmer neben dem Heiligenzimmer für sich und seine Familie mieten. Abhängig von der Beliebtheit des Heiligen (und den damit einhergehenden Anzahl an Besuchern) kann das daher bis zu einer halben Million Pesos (rund 25.000,– Euro) kosten.
Die traditionellen und zivilen Führer halten wiederum jeden Sonntag Hof um sich um Anliegen der Dorfbewohner zu kümmern. Leider darf man am Versammlungsplatz ebenso wenig fotografieren wie im Heiligenzimmer oder im Inneren der Kirche. Letzteres war nämlich überaus bemerkenswert: Von außen sieht die Kirche ganz normal aus, aber im Inneren gibt es keine Bänke, sondern es sind (wieder einmal) Kiefernadeln am Boden verstreut, dazwischen sind Kerzen direkt am Boden aufgestellt, und davor knien Heiler mit ihren Schützlingen, die sie mit Weihrauch einräuchern. Eventuell lassen sie auch ein lebendes Huhn vor ihnen kreisen, bevor sie ihm den Hals umdrehen, wenn (fast) alles Böse vom Menschen aufs Huhn übergegangen ist. Um die letzten Reste der Krankheit loszuwerden, hat man früher ein schwarzes Gesöff aus vergorenem Mais getrunken, das einen zum Aufstoßen gebracht hat – bis man gemerkt hat, dass Coca-Cola die wesentlichen Eigenschaften (schwarz, bringt einen zum Rülpsen) auch besitzt, aber wesentlich leichter in der Beschaffung ist. Seither trinkt man in der Kirche Coca-Cola zur Genesung.
Das zweite Dorf, Zinacantán, war im Vergleich schon richtig normal. Außergewöhnlich waren nur die Dutzenden Blumensträuße am Altar der Kirche (man verdient hier sein Geld mit Blumen), sowie der Kristallluster und die blinkende Leuchtkette am Altar der Kapelle.
Dort waren wir auch bei einer Familie zu Gast, die ihr Geld mit dem Weben verdient. An mir ist sie nicht reich geworden – ich habe nur für die Tortillas gespendet, die sie uns aufgewartet haben – aber andere aus der Reisegruppe haben zugeschlagen.
Zum Schluss bleibt noch ein Detail zu erwähnen: Die Indigenen haben ein eigenes Wort für "Weiße", und weil sehr viele deutsche Missionare zu ihnen gekommen sind, lautet das "Alemanetik". Mit anderen Worten: Ich war heute also ein Deutscher.