Nach meinen Besuchen in Swanetien und Kazbegi letztes Jahr war nun die dritte Region des georgischen Kaukasus an der Reihe: Tuschetien.
Diese Bergregion ist noch abgeschiedener und schwieriger zu erreichen als es Swanetien schon war: Die einzige Zufahrtsstraße ist nicht asphaltiert, sehr kurvenreich und führt über den 2926 Meter hohen Abano-Pass (der überhaupt nur von Mitte Juni bis Anfang Oktober geöffnet ist). Wegen all dieser Herausforderungen kann der Weg nur von Fahrzeugen mit Allradantrieb bewältigt werden. Gottseidank organisieren die Gästehäuser im Tal Jeep-Sammeltaxis für je vier Passagiere, sodass man nicht alleine ein ganzes Fahrzeug samt Fahrer (für 200,– GEL, das sind rund 75,– EUR) bezahlen muss. So bin ich mit zwei israelischen Touristinnen und einem Polen im selben Jeep gelandet. Letzterer konnte sogar ganz passabel russisch, sodass er dem Fahrer unsere Wünsche nach Pinkelpause, Fotostopp und dergleichen wohl artikuliert übermitteln konnte, ohne dass wir uns der Charade hätten bedienen müssen.
Doch selbst mit einem passenden Fortbewegungsmittel war die Fahrt kein Zuckerschlecken: Wir haben für die 72 Kilometer geschlagene vier Stunden (!) gebraucht. Teilweise ist die Route wirklich haarsträubend; dafür sind die Ausblicke auch phantastisch.
Im Hauptort Omalo angekommen, sind wir einmal gleich direkt bei einem Gästehaus (in Kvemo Omalo, dem Unteren Omalo) abgesetzt worden. Nachdem die Israelis aber lieber in Zemo Omalo (dem Oberen Omalo) übernachten wollten, um am nächsten Tag näher zu ihrer geplanten Wanderroute zu sein, sind wir alle vier geschlossen weitergezogen, um auf eigene Faust eine Unterkunft zu suchen. Erst später haben wir erfahren, dass mit der Buchung des Jeeps auch ungefragt gleich diese Unterkunft für uns organisiert worden ist, und wir daher die Inhaberin (aus ihrer Sicht) haben sitzen lassen.
Aus unserer Sicht hat es sich aber trotzdem ausgezahlt, in Zemo Omalo zu übernachten, den dieser Ortsteil ist mit der über allem thronenden Festung aus Wehrtürmen einfach der pittoreskere.
Am Abend hat schließlich eine polnisch-georgische Gruppe gegenüber von unserem Hotel ein Lagerfeuer entfacht und den Polen aus unserer Runde (der sich abends durch Tragen einer polnischen Tracht schon von weitem als solcher zu erkennen gegeben hat) auch gleich eingeladen. Der hat die Einladung schließlich auch auf uns ausgedehnt, was zumindest ich auch angenommen habe. Kaum bin ich beim Feuer gesessen, konnte ich gar nicht schnell genug schauen, schon hatte ich einen Becher Chacha (eine Art georgischer Wodka, nur aus Trauben und mit 60% Alkoholgehalt) in der Hand. Kurz darauf wurde mir schon lautstark zugeprostet(*) – und leider habe ich nicht schnell genug geschaltet, dass ich bei einem undurchsichtigen Becher ja auch nur daran nippen könnte. Bevor ich aber gänzlich betrunken werden konnte, ist plötzlich die Idee aufgekommen, im Stockfinstern den steilen Hang zur Festung hochzuklettern. Das war für mich der Zeitpunkt, mich auszuklinken und ins Bett zu gehen.
Wir haben die Festung dann zu viert am nächsten Morgen aus der Nähe erkundet, bevor sich die Wege von uns "Vier im Jeep" getrennt haben: Der Pole ist mit Teilen der Lagerfeuer-Runde aufgebrochen, die beiden Israelis wollten eine (laut meinem Reiseführer fünftägige) Wanderung in drei Tagen absolvieren, und ich habe mich für den ersten Tag dieser fünftägigen Wanderung entschieden.
Ich bin allerdings erst eine Stunde nach den Israelis aufgebrochen und war dementsprechend alleine unterwegs. Grundsätzlich ist das ja nichts Neues für mich, und nachdem der Weg fast die ganze Zeit eine Jeeppiste (mit zwar nicht regem, aber doch regelmäßigem Verkehr) entlang geführt hat, war das auch nicht wirklich problematisch. Einzig an einer Stelle verlässt der Wanderweg die Straße – und just dort war der Weg nicht eindeutig, sodass ich offensichtlich den falschen erwischt habe, denn ich bin bald darauf plötzlich vor einem steilen Abhang gestanden. Ohne meine vorab heruntergeladene Wanderkarte am Smartphone mit GPS-Unterstützung hätte ich den Weg wohl auch nicht wieder gefunden. So musste ich mich nur ein wenig durchs Unterholz kämpfen.
Danach ging es gemütlich bergab ins Tal des Pirikita-Flusses, an dessen Ufer Dartlo, mein Tagesziel, zu finden war. Dort angekommen habe ich festgestellt, dass ich durch die Abkürzung durch den Wald die beiden Israelis nicht nur ein- sondern sogar überholt habe. Die rund 20 Minuten bis zu ihrer Ankunft habe ich mit einem ersten Spaziergang durch die "Straßen" des Ortes überbrückt, bevor wir gemeinsam zu Mittag gegessen haben.
Danach sind sie beiden noch in den Nachbarort weitermarschiert. Sie hätten zwar sicher nichts dagegen gehabt, wenn ich mich ihnen angeschlossen hätte, aber ich fand ihren Plan, einen (nach meinen Unterlagen) 75 Kilometer langen Rundkurs inklusive Überquerung eines rund 2900 Meter hohen Passes innerhalb von drei Tagen zu absolvieren noch immer (gelinde gesagt) sehr ambitioniert. Ich habe stattdessen den Nachmittag mit einer Wanderung zur rund 350 Meter höher gelegenen Siedlung Kvavlo mit ihrem Wehrturm verbracht.
Auch dabei bin ich offensichtlich vom eigentlichen Weg abgekommen(**) und musste mich diesmal durch ein Distelfeld nach oben kämpfen. Als ich den richtigen Weg wieder gefunden hatte, war ich überrascht, dass er mich zu einem offensichtlich frisch renovierten Haus geführt hat – dort oben wohnt tatsächlich noch jemand!
Außerdem sind in Dartlo ein paar alte heidnisch-christliche Grabstätten, die Ruine einer Kirche (der sich, wie einigen heiligen Stätten in der Region, Frauen übrigens nicht nähern dürfen) und ein Steinkreis, wo früher Recht gesprochen wurde, zu sehen.
Am nächsten Tag wäre ich eigentlich am liebsten nach Diklo, einem weiteren Ort in der Gegend, weitergewandert. Dieser ist einen bequemen Tagesmarsch von Omalo entfernt, und daher durchaus für eine "Dreieckswanderung" geeignet. Allerdings führt nur ein schmaler, wenig begangener Trampelpfad von Dartlo dort hin, den ich lieber nicht alleine machen wollte. Statt dessen bin ich nach Omalo zurückgekehrt und von dort aus weiter nach Shenako, etwa auf halben Weg von Omalo nach Diklo, gewandert, um letzteren Ort zumindest noch so besuchen zu können.
Leider hat der Weg nach Shenako eine Flussüberquerung erfordert, wofür ich erst mehrere hundert Höhenmeter ab- und danach wieder aufsteigen musste. Nachdem ich auch praktisch nichts zu Mittag gegessen hatte, war ich dementsprechend fertig, als ich kurz vor 16:00 Uhr endlich in Shenako angekommen bin. Auf der Suche nach einer Unterkunft musste ich allerdings feststellen, dass dieser eigentlich bewohnte Ort noch ausgestorbener als das ohnehin schon verschlafene Dartlo ist: Bis auf einen Greis, der mir nicht nur mangels Englischkenntnissen sondern auch wegen seiner Schwerhörigkeit bei der Herbergssuche nicht behilflich sein konnte, habe ich anfangs niemanden angetroffen. Dann ist gottseidank ein Auto mit drei Bauarbeitern vorgefahren, von denen einer zumindest so weit Englisch konnte, dass er das Wort Guesthouse
verstanden hat. Der hat mich dann zuerst zu dem gut ausgeschilderten Hotel, das ich allerdings für verbarrikadiert gehalten habe(***), geführt. Nachdem dort keiner anzutreffen war, hat er mich zu einem anderen Haus geführt, bei dem ich erst nach langem Suchen das "Guesthouse"-Schild entdeckt habe – das hätte ich alleine wohl nie gefunden. Dort hat gottseidank ein weiterer Greis Dienst getan, der zwar weniger schwerhörig war, aber nur unwesentlich mehr Englischkenntnisse besessen hat. Dank eines Vordrucks konnte er mir aber zumindest den Zimmerpreis vermitteln (wobei ich zu dem Zeitpunkt ohnehin fast alles akzeptiert hätte).
Mangels Verständigungsmöglichkeiten habe ich mich nach erster Erkundung des Ortes auf mein Zimmer zurückgezogen, etwas von meinen eisernen Vorräten gejausnet und gelesen. Bald nach Sonnenuntergang, als ich gerade am Überlegen war, ob (und wenn ja, wie) ich meinen Gastgeber doch noch um ein vegetarisches Abendessen bitten soll, oder ob ich mit meinen Müsliriegeln bis in der Früh durchhalte, hat mein Gastgeber an mein Zimmerfenster geklopft und ein Wort gerufen. Bis ich vor der Tür am Gang gestanden bin, war er jedoch schon wieder verschwunden, und erst so langsam ist mir gedämmert, dass er mich wohl zum Dinner
gerufen hat. Mich hat ein wenig das schlechte Gewissen gepackt, dass ich nicht einmal versucht habe, ihm zu sagen, dass ich kein Fleisch esse, und er jetzt vielleicht Unmengen davon zubereitet hat, die ich nicht essen würde. Umso größer war meine Freude, als er mich zu einem reichlich rein vegetarisch gedeckten Tisch geführt hat. Ich habe zugelangt, als gäbe es kein morgen – da ist mir erst bewusst geworden, wie hungrig ich eigentlich war.
Noch bevor er mich zum Tisch geleitet hat, wollte er wissen, ob ich vielleicht Chacha oder Wein haben möchte. Offensichtlich hat ihn mein zweimaliges Nein so verwirrt, dass er mich beim Servieren der Kartoffeln noch einmal gefragt hat. Als ich dann gemeint/gedeutet habe, dass ich ein kleines Gläschen Wein nehme, hat er nur lachend den Kopf geschüttelt ob eines anscheinend so sonderbaren Touristen – und mir schlussendlich einen Halbliter-Krug Wein gebracht.
Am nächsten Morgen (nach einem ebenso üppigen Frühstück, das allerdings verblüffenderweise – bis auf Omelett statt Krautsalat – fast genau dem Abendessen geglichen hat) bin ich schließlich nach Diklo gewandert. Die eigentliche Attraktion, Dzveli Diklo (das Alte Diklo), liegt dabei etwas außerhalb des heutigen Ortes. Es handelt sich dabei um die mittlerweile überwucherten Ruinen einer alten Festung, wo sich im 19. Jahrhundert nur wenige Verteidiger mehrere Tage lang gegen tausende Angreifer zur Wehr setzen konnten, bevor die Festung schließlich eingenommen werden konnte. Sieht man die Festung so auf ihrem Felsvorsprung thronen, kann man sich auch vorstellen, dass eine Eroberung nicht so einfach gewesen sein muss. Von der Nähe wirken die Ruinen dann schon nicht mehr so imposant.
Am Nachmittag bin ich schließlich wieder nach Omalo zurückkehrt – erneut ins Flusstal hinunter und wieder hinauf. Da dieser Abschnitt des Weges aber wenigstens im Schatten war, war er angenehmer als das letzte Stück von Kvemo Omalo nach Zemo Omalo (in der prallen Sonne). Als ich endlich oben angekommen bin, habe ich mit Entsetzen feststellen müssen, das meine Herberge offensichtlich geschlossen hatte – zumindest habe ich die Handzeichen des einsamen Arbeiters dort so gedeutet. Das war nicht nur deswegen blöd, weil ich mir eine neue Unterkunft suchen musste, sondern vor allem, weil ich dort einige meiner Sachen eingelagert hatte. Ich habe mich dann am "Hauptplatz" mit Blick in Richtung Herberge platziert, und als der Bauarbeiter in Richtung des Lagerraums verschwunden ist, in dem meine Sachen aufbewahrt worden sind, bin ich ihm im Laufschrift nach und habe versucht, ihm mit den Ausrufen Bagasch, Bagasch
(****) klar zu machen, dass hier meine Tasche aufbewahrt wird. Er dürfte es schlussendlich verstanden haben; zumindest hat er mich mit meiner Tasche von dannen ziehen lassen.
Um dann noch das Problem mit der Übernachtung zu lösen, habe ich mich einfach ans einzige andere Gästehaus in Zemo Omalo gewandt, bei dem sich zumindest irgendein Leben gerührt hat – und siehe da, ich habe ein Zimmer im nachgebauten tuschetischen Wehrturm bekommen. Es war zwar etwas dunkel (weil die "Fenster" einfach nur winzige Löcher in der Steinwand waren), aber (wie ich finde) ein passender Abschluss zu meinem Aufenthalt.
Alles in allem waren es großartige Tage in einer alpinen Berglandschaft, die jedoch (bedingt durch ihre Abgeschiedenheit) noch sehr unberührt und kaum touristisch ist. Hoffentlich bleibt das noch lange so!
(*) Anscheinend prostet man einander in Georgien unter anderem mit dem georgischen Äquivalent von "Freiheit" zu – offensichtlich ein hohes Gut nach den letzten Jahrzehnten.
(**) Die Kennzeichnung der Wanderwege ist hier teilweise auch echt schlecht.
(***) Mein Fehler, mir hätte klar sein müssen, dass ich nicht durch die Tür, sondern durchs Gatter neben dem Haus in den Garten und dann über den Hintereingang hineingehen muss.
(****) lautmalerisch für das (wie ich glaube) russische Wort für "Gepäck"